Unsere rollstuhlfahrende Kolumnistin muss mal wieder einiges zu öffentlichem Nahverkehr erklären.
Debora Antmann 1989 in Berlin geboren und die meiste Zeit dort aufgewachsen. Als weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin, schreibt sie auf ihrem Blog »Don’t degrade Debs, Darling!« seit einigen Jahren zu Identitätspolitiken, vor allem zu jüdischer Identität, intersektionalem Feminismus, Heteronormativität/ Heterosexismus und Körpernormen. Jenseits des Blogs publiziert sie zu lesbisch-jüdischer Widerstandsgeschichte in der BRD, philosophiert privat über Magneto (XMen) als jüdische Widerstandsfigur und sammelt High Heels für ihr Superheld_innen-Dasein.
Loud’n Jewcy von Debora Antmann
Aber beginnen wir mit etwas Städteunspezifischem: Da sitzt ein Mensch im Rollstuhl.
Dass da ein Mensch im Rollstuhl sitzt, hat zur Folge, dass dieser Mensch, in diesem Beispiel ich, doch zumindest das Basisrepertoire an Anstand verdient hat. Wenn du also, ich bin mir sicher, versehentlich gegen meinen Rollstuhl rennst, trittst, stößt, haust, dein Fahrrad oder Kinderwagen dagegenknallst, geh halt nicht einfach davon aus, dass es der Krüppel im Rollstuhl nicht merkt (ich merke es und es ist sehr unangenehm), sondern entschuldige dich. Es macht mich inzwischen so aggressiv, zu sehen, wie Leute sich sofort entschuldigen, wenn sie ein Fahrrad in der Bahn oder einen Kinderwagen im Aufzug anrempeln, aber sich ungelogen NOCH NIE jemand die 378 Mal bei mir entschuldigt hat, die mir gegen die Räder oder Beine getreten, im Aufzug hinten reingefahren oder Taschen und Rucksäcke in meinen Rollstuhl geknallt wurden. Die einzigen Entschuldigungen, die ich bekomme, sind jene, wenn es mal mein Gesicht trifft. Ich sage es, wie es ist: Es stört das Fahrrad und wahrscheinlich auch das Baby im Kinderwagen weniger, wenn du drüberstolperst oder dagegenfährst, als eine Person im Rollstuhl, durch deren GESAMTEN Körper das geht. Ich habe neulich erlebt, wie eine Person in der Bahn mit voller Wucht erst das Fahrrad gegen meine Beinstützen gerummst hat (keine Reaktion) und zwei Minuten später gegen einen Koffer und sich dann bei der Person mit dem Koffer entschuldigt hat. Ich kann nicht anders, als die Menschheit dafür zu hassen. Und weil du jetzt sicher denkst, „ich würde das NIE machen“: In der Häufigkeit, in der das passiert, ist es statistisch unmöglich, dass dem so ist. Statt also zu denken, dass du nicht gemeint sein kannst, entschuldige dich halt einfach beim nächsten Mal.
Nun etwas Berlin spezifischer, das sich aber auch auf alle anderen deutschen Städte, in denen ich bisher war, anwenden lässt: Wenn ein Platz für uns ist, ist er auch für uns, wenn es dir gerade nicht passt. Nehmen wir als Beispiel die Berliner Busse. Diese haben ein, manchmal sogar zwei Rollstuhlplätze. Markiert sind diese mit zwei blauen runden Aufklebern. Der erste runde Aufkleber ist das bekannte weiße Rollstuhl-Piktogramm auf blauem Grund. Der zweite runde Aufkleber ist sogar noch klarer. Darauf steht nämlich explizit: „Dieser Platz ist für Rollstuhlfahrer reserviert.“ Jetzt ist es aber 40 Prozent der Zeit folgendermaßen: Eine rollstuhlfahrende Person, in dem Beispiel ich, steht an der Haltestelle, Bus kommt, Bus ist voll (mit Menschen ohne Rollstuhl), Bus nimmt mich nicht mit. Wenn ich anfange zu diskutieren, werden alle sehr sauer und fragen: Ja, was soll man denn machen, erwarten Sie jetzt, dass wir aussteigen?! Und die Wahrheit ist: JA! Denn dass du dich bis dahin auf dem Platz für Rollstuhlfahrer*innen quetschen konntest, ist reine Kulanz. Das bedeutet lediglich, der Bus war vorher schon zu voll! Wenn du in ein Restaurant gehst und da steht ein „Reserviert“-Schild auf einem Tisch und du setzt dich da trotzdem hin und wirst dann darauf hingewiesen, dass du jetzt leider gehen musst, weil die Personen, die den Tisch reserviert haben, angekommen sind, verlangst du dann auch, dass die Personen, für die der Tisch reserviert ist, gefälligst in ein anderes Restaurant gehen sollen, weil du da jetzt sitzt?! Nein, weil der Platz von Beginn an nicht für dich gedacht war und du dort gegebenenfalls so lange sitzen durftest, bis die Personen, für die der Tisch reserviert wurde, eingetroffen sind. Wenn du nicht bereit bist auszusteigen, wenn Menschen mit Rollstuhl die für sie reservierten Plätze in Anspruch nehmen MÜSSEN, dann solltest du eben gar nicht erst den Bus betreten, wenn du siehst, dass der Bus so voll ist, dass der Platz für Rollstuhlnutzer*innen besetzt werden müsste, sobald du dazusteigst. Da aber weiterhin alle so Öffis fahren wollen, als würden Menschen im Rollstuhl nur alle zehn Jahre mal wie ein Wunder in einem Bus auftauchen, musst du dann halt zumindest bereit sein, diesen Platz, der nicht für dich ist, frei zu machen. Und jetzt fragst du dich sicherlich, „warum sollte ich warten und du nicht“: weil es nur EINEN, maximal ZWEI Plätze pro Bus für uns gibt und sobald ein*e Rollstuhlfahrer*in bereits im Bus ist, wir OHNEHIN auf den nächsten Bus warten müssen, während sich Fußgänger*innen überall reinquetschen können. Wir warten 50 Mal so oft wie du darauf, in Öffis mitgenommen zu werden, dann kannst du wenigstens so viel Anstand haben, uns den einen oder die beiden Plätze zu lassen, DIE FÜR UNS RESERVIERT sind.