Silke Mielck (l.) leitet die Handicap-Sparte des TSV Westerland auf Sylt. Ihre Sportlerinnen und Sportler kennt sie seit vielen Jahren.
Foto: Johannes Kramer/HA
Seit 13 Jahren trifft sich die Gruppe des TSV Westerland unter Silke Mielck. Ein marodes Stadion macht den Sportlern zu schaffen.
Westerland. Jede Woche steigt Silke Mielck in einen Kleinbus, um ihre Sportlerinnen und Sportler von den „besonderen Wohnformen" der Lebenshilfe abzuholen und zur Sporthalle des Gymnasium Westerland zu fahren. An diesem Sonnabend ist es eine zehnköpfige Gruppe, die sich zum gemeinsamen Sportmachen trifft.
Für die beiden Stunden hat sich die Trainerin der Handicap-Sparte des TSV Westerland überlegt, mit blauen Redondo-Bällen zu arbeiten. Die weichen Gymnastikbälle eignen sich gut für verschiedenste koordinative Übungen. Alle machen so mit, wie sie können. Niemand wird ausgegrenzt.
„Jede Sportstunde ist anders. Die Vorbereitung ist deshalb immer etwas schwierig“, sagt Mielck, die die Übungen immer individuell anpasst. Besonders beliebt sind zum Beispiel Aufgaben mit Luftballons. Weil eine ihrer Sportlerinnen Luftballons aber nicht mag, lässt sie diese heute weg. Gefragt ist neuerdings auch Zumba.
„Wir haben im Verein eine Zumba-Trainerin, die ich mal angesprochen habe. Sie kam dann mit ihrer Gruppe in unsere Sportstunde. Dann haben wir alle zusammen Zumba gemacht“, berichtet die Betreuerin.
In diesem Jahr wird die Handicap-Sparte stolze 14 Jahre alt. Ursprünglich war Mielck Handballtrainerin der D- und E-Jugend beim TSV Westerland. Als im Jahr 2008 ein Training ausfallen musste, lud sie spontan ein paar Bewohner der Lebenshilfe, bei der sie hauptberuflich arbeitet, in die Halle ein. Ein Jahr später wurde die Handicap-Sparte gegründet. „Ich hatte einfach Bock drauf! Mit Menschen zu arbeiten, hat mir immer Freude gemacht“, sagt Mielck, die für den Behindertensport die Tätigkeit als Handballtrainerin schließlich aufgab. „Zeitlich wäre das alles zusammen nicht umsetzbar gewesen. Wenn ich etwas anfange, dann soll das wirklich langfristig Bestand haben.“
Auf die Insel gekommen war die 55-Jährige, die gebürtig aus der Ruhrgebietsstadt Hattingen stammt, durch die Arbeit. „Ich habe als Kinderkrankenschwester in München gearbeitet und war dann im Urlaub auf Sylt. Ich fand die Insel cool und habe gedacht, dass ich mich einfach mal bewerben sollte.“ 31 Jahre ist das nun her. Zunächst fing sie in der Kurklinik an, 1999 wechselte sie dann zur Lebenshilfe. „Ich glaube, dass es vielen – auch durch die Medien – nicht klar ist, dass wir eigentlich ganz normal wie allen anderen auf dem Festland leben, arbeiten und unseren Sport machen. Das Inselleben ist aber natürlich trotzdem etwas anderes. Hier ist es zum Beispiel etwas beschaulicher als in einer Großstadt.“
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Was entgegnet sie Menschen, die Sylt nur für seine Klischees kennen? „Ich würde allen sagen: Kommt auf die Insel und lebt mit uns. Diese Klischees kriegen wir nie raus. Manchmal nervt es mich, weil es einfach nicht der Wahrheit entspricht. Es gibt hier natürlich Menschen mit wahnsinnig viel Geld, aber es gibt auch viele Menschen, die sehr großzügig sind. Man muss nur auf sie zugehen.“
Genauso so hat sie es mit der Handicap-Sparte erlebt. „Es ist vielen nicht bewusst, dass es uns gibt. Wenn man die Menschen darauf anspricht, ist das Interesse aber groß“, beschreibt sie und fügt an: „Es ist auf der Insel so, dass etwas ganz präsent ist, wenn es neu ist. Man ist oft in der Zeitung und irgendwann gerät es wieder ein bisschen in Vergessenheit.“ Die Pandemie hat dazu ihr Übriges getan. „Durch Corona war es der Fall, dass alle sehr für sich waren. Das ist hier genauso mit der Sparte“, sagt sie. Für den Fortbestand der Sparte sei vor allem der Kontakt zum Festland wichtig: „Wir haben hier zwar ein super Netzwerk, aber müssen auch mal runter von der Insel.“
Die Zeit der Isolation habe ihren Sportlerinnen und Sportlern sehr zu schaffen gemacht. „Nach Corona sehe ich vor allem, dass sie alle älter werden. Das ist nicht so schön. Viele sind nicht mehr so aktiv wie vorher“, erzählt sie. Während der Pandemie konnten sie immerhin die Räumlichkeiten in der Lebenshilfe zur gemeinsamen Bewegung nutzen. Aber auch das Arbeiten in der Werkstatt, in der es für die Bewohner mittlerweile Sportangebote gibt, ist anstrengend. „Nach Feierabend sind viele erschöpft. Dann muss ich sie motivieren, noch irgendetwas zu tun. Da merke ich, dass das schwerer geworden ist. Viele wollen abends aber auch einfach nur auf der Couch liegen. So wie es jedem manchmal geht.“
2007 hat die zweifache Mutter zum ersten Mal in der „besonderen Wohnform“ auf Sylt gearbeitet. Alle Mitglieder der Handicap-Sparte, die an guten Tagen 15 Personen umfasst, kennt sie seit mindestens zehn Jahren. „Es ist toll, ihre Entwicklung über einen so langen Zeitraum zu verfolgen. Für mich ist es das Größte, ihre Freude zu sehen. Dass sie zufrieden sind.“ Viele leben in den „besonderen Wohnformen“ der Lebenshilfe, drei Mitglieder beanspruchen „Wohnen mit Assistenz“, eine Unterbringung mit ambulanter Betreuung.
So wie an diesem Sonnabend wird die Halle hauptsächlich in den Wintermonaten genutzt. „Sobald der Sommer kommt, sind wir draußen. Wir haben ja den Luxus vom Strand“, betont die Trainerin. Selbst ein Spaziergang am Strand kann aber schon herausfordernd sein. Viele würden es nicht mögen, Schuhe ausziehen. Einer der Sportler sitzt zudem im Rollstuhl. „Da muss man immer eine Lösung finden, dass alle irgendwie auf ihre Kosten kommen“, sagt Mielck.
Auf Sylt würde sie sich mehr Barrierefreiheit wünschen. „Es wäre schön, noch ein bisschen mehr Möglichkeiten zu haben, um als Rollstuhlfahrer zum Beispiel ganz runter an den Strand kommen zu können. Es gibt zwar riesige Rollstühle, mit denen das geht. Darin wird man von Touristen aber häufig angestarrt. Da finde ich die elektrischen Rollstühle, mit denen das geht, etwas unauffälliger.“ Doch grundsätzlich gilt: „Es gibt es immer einen Weg, wenn wir etwas machen wollen.“
Anpassungsfähig sein muss die Gruppe auch von Mai bis September sein, wenn jeden Dienstag und Donnerstag Leichtathletik auf dem Programm steht. Die Sparte übt dann für das Deutsche Sportabzeichen. „Ich finde schön, dass sich da alles vermischt. Da kommen Schulklassen, da kommen Urlauber – alle mit dem Ziel, das Sportabzeichen zu schaffen. Und wir sind da mittendrin!“
Das Sylt Stadion in Westerland, wo sich die Gruppe im Sommer trifft, ist allerdings marode. Kaninchen haben Löcher in den Rasen gegraben, an der Tribüne bröckeln einige Steine. Das geplante Sportfest des Vereins musste im letzten Jahr aus Versicherungsgründen abgesagt werden. „Es ist alles in die Jahre gekommen und keiner will Geld ausgeben für Neues. Wenn wir auf dem Gelände den geplanten Multipark kriegen würden, wäre ja schon mal viel getan“, sagt Mielck, die für ihre Gruppe oft nach Alternativen suchen muss. Zum Weitwerfen etwa weichen sie häufig an den Strand aus.
Beim Deutschen Sportanzeichen gibt es die Disziplinen Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Koordination und Schwimmen. Mit letztgenannter hatte die Gruppe ein großes Ziel: Zu den „Special Olympics“ 2023 in Berlin zu fahren. Mielck: „Wir wollten das mit dem Schwimmen machen. Dann kam aber Corona dazu und schließlich fehlte uns auch noch die Schwimmhalle.“
Bis zum Frühjahr 2021 traf sich die Gruppe in der Schwimmhalle List. Nach deren Schließung zog die Sparte im folgenden Sommer in die Sylter Welle um. „Das war für viele eine Umstellung mit den neuen Räumlichkeiten. Letztes Jahr wollten wir außerdem testen, wie es ist, unter Wettkampfbedingungen das Schwimmen durchzuführen. Das konnten wir leider nie umsetzen.“ Im normalen Sportbetrieb wird Mielck von zwei Betreuerinnen unterstützt. Beim Schwimmen kommen noch eine männliche Begleitung sowie eine Badeaufsicht hinzu. „Im Wasser musst du immer da sein und die Augen offen haben“, sagt sie. Mit der Schwimmgruppe irgendwann einmal zu den Special Olympics fahren zu können, bleibt der große Wunsch.
Doch auch für die nähere Zukunft hat Silke Mielck ambitionierte Pläne. Sie würde gerne die Sportart „Kin Ball“ beim TSV Westerland fördern. „Mein Ziel ist, dass wir uns damit öffnen und die Sportart inklusiv gestalten können. Jeder, der Lust hat, soll mitmachen können.“ Für Inklusion steht auch das sogenannte „Buddy-Sportabzeichen“, bei dem Menschen mit und ohne Behinderung als gemeinsames Duo das Sportabzeichen absolvieren. Mielcks Wunschvorstellung wäre, dass jeder ihrer Sportlerinnen und Sportler einen Schülerpaten hat. Die Gespräche mit den Schulen auf der Insel sollen in diesem Monat starten.
Als die beiden Stunden zu Ende gegangen sind, lobt Mielck ihre Sportlerinnen und Sportler: „Das habt ihr heute wirklich toll gemacht!“ Alle ziehen ihre dicken Winterjacken an, bevor es wieder in den Kleinbus geht, der sie zurück nach Hause bringt. Am kommenden Sonnabend wird Silke Mielck sie wieder abholen, so wie sie es seit 13 Jahren tut.
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