Mode für Menschen mit Behinderung: Eine Revolution aus Berlin

2023-03-08 16:35:17 By : Mr. flyingtiger king

Kann es eine Mode geben, die allen Menschen passt? Eine Berliner Label-Gründerin glaubt daran – und arbeitet jetzt mit einer der weltgrößten Modefirmen.

Manuela Schmermund ist zu Scherzen aufgelegt. „Eine unbewegliche Schaufensterpuppe in einen Rollstuhl zu setzen, wird vielleicht schwierig“, sagt sie. „Aber einer Puppe einen Arm abzunehmen, das wäre doch wirklich leicht zu machen.“ So oder so: Schmermund wünscht sich, dass sich künftig auch Menschen mit Behinderung im Modeladen wiederfinden – auf den Werbefotografien, in Katalogen, oder eben im Schaufenster.

Schmermund ist Teil eines Paneltalks, den das große Modeunternehmen Uniqlo vor wenigen Wochen in seinem Berliner Geschäft auf dem Tauentzien initiierte, als sie das erzählt. Neben der Sportschützin, die unter anderem 2004 bei den paralympischen Spielen in Athen eine Gold- und eine Bronzemedaille geholt hat, sind auch die Psychologiestudentin Elisa Chirino, die vor einem Trainingsunfall im Jahr 2014 als Kunstturnerin deutschlandweit Erfolge feierte, sowie der schottische Rollstuhltennisspieler Gordon Reid Teil der Runde, in der es um inklusive Mode geht.

So wie Schmermund wünschen sich auch die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Talks eine größere Repräsentanz, eine Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in der Modeindustrie. „Schließlich ist Mode“, so stellt die Autorin und Aktivistin Laura Gehlhaar heraus, die das Panel moderiert, „nicht nur ein Zeichen von Individualität, sondern auch von gesellschaftlicher Zugehörigkeit.“

Das eigentliche Problem ist einfach, dass es für Menschen mit Behinderung keine passende Kleidung gibt.

Zwar hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan. Der Hamburger Mario Galla zum Beispiel, der eine Beinprothese trägt, arbeitet international erfolgreich als Model. Und mit Ellie Goldstein hatte die Kosmetiksparte von Gucci vor wenigen Jahren zum ersten Mal eine Werbebotschafterin mit Downsyndrom engagiert. Dass aber mehr als 15 Prozent der Weltbevölkerung mit einer Behinderung leben, wird in den Bildern und Darstellungen der globalen Modeindustrie nach wie vor kaum sichtbar.

„Die Repräsentation ist aber nur die eine Seite“, sagt indes Sema Gedik. „Es bringt nur wenig, wenn man entsprechende Werbegesichter oder Schaufensterpuppen hat, sich diese Inklusion aber gar nicht im Team und im Warenangebot spiegelt.“ Das eigentliche Problem, so die Berliner Unternehmerin, „ist einfach, dass es für Menschen mit Behinderung keine passende Kleidung gibt“.

Würde nicht auch die Produktion fundamental verändert, bliebe es bei Augenwischerei. Bei „Inclusive Washing“, wie es Gedik in Anlehnung an das aktuelle Phänomen des „Greenwashing“ nennt: So wie sich viele Firmen im Zuge der Nachhaltigkeitsbewegung einen ökologischen Anstrich verpassen, ohne entsprechende Themen auch integer anzugehen, gebe es ähnliche Entwicklungen auch im Bereich der Inklusion.

Durch meine Cousine habe ich erfahren, wie aufwendig und kostenintensiv die Suche nach Kleidung für behinderte Menschen ist.

Sema Gedik, die an der Initiierung des Uniqlo-Paneltalks beteiligt war, kann sich diese scharfe Kritik erlauben. Denn ihre eigene Modemarke Auf Augenhöhe funktioniert ganz anders: Sie wirbt nicht nur mit kleinwüchsigen Menschen – jedes Teil des Berliner Labels ist auch speziell für diese Zielgruppe gemacht. Schon in ihrem Modedesign- und Bekleidungstechnik-Studium an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin hat sich Gedik mit dem Thema auseinandergesetzt; auch aus einer persönlichen Motivation heraus.

„Meine Cousine Funda, die in der Türkei lebt, ist kleinwüchsig“, erzählt die Labelgründerin. „Durch sie habe ich erfahren, wie aufwendig und kostenintensiv die Suche nach Kleidung für behinderte Menschen ist.“ Ein speziell abgestimmtes Angebot gebe es kaum, meist müssten reguläre Modeteile extra abgeändert werden. Und was es für das Selbstwertgefühl eines erwachsenen Menschen bedeutet, sich häufiger auch aus der Kinderabteilung zu bedienen, kann sich wohl jeder vorstellen.

Also hat Gedik das Projekt Auf Augenhöhe schon 2013, während ihres Studiums gestartet – und stand erstmal vor einer Menge Arbeit. „Ich musste ja ein ganz eigenes Größensystem entwickeln, das es so noch nicht gab“, erzählt sie. Hunderte kleinwüchsige Menschen hat Gedik im Zuge ihrer wissenschaftlichen Recherchearbeit vermessen – vor allem in Europa aber auch in einigen südamerikanischen Ländern, von Hand, höchstpersönlich.

Dass wir uns erstmal auf kleinwüchsige Menschen fokussiert haben, war allerdings allein eine Frage der Ressourcen.

„Ich habe das ganz bewusst selbst gemacht, weil ich auch mit ihnen sprechen und mehr über ihre Wünsche und Bedürfnisse erfahren wollte“, erzählt sie. Am Ende waren es mehr als 15.000 Körperdaten, die Sema Gedik zusammen mit einem kleinen Team in ein eigens entwickeltes Computerprogramm einspeiste, mit dessen Hilfe sodann ein Größensystem entwickelt wurde.

Seit 2018 gibt es Auf Augenhöhe nicht mehr nur als Projekt, sondern als richtiges Unternehmen, das seine Mode in 15 Größen anbietet: Eine Zahl zeigt an, ob sich Hose oder Rock, Bluse oder Blazer für kleine, mittelgroße oder große kleinwüchsige Menschen eignet; je Kategorie reichen die Größen dann von „Extra Small“ bis „Extra Large“: Auf den Labels von Auf Augenhöhe stehen also Angaben wie „1-L“, „2-M“ oder „3-XS“. Mittlerweile werden die Produkte mittels des eigenen Onlineshops weltweit verkauft.

„Dass wir uns erstmal auf kleinwüchsige Menschen fokussiert haben, war allerdings allein eine Frage der Ressourcen“, sagt Sema Gedik, die ihr Unternehmen zwar mithilfe von Startup-Förderungen, aber ganz ohne große Investoren aufgezogen hat. Eigentlich verstehe sie es als ihre Aufgabe, ihren Auftrag, das ganz große Ziel, eine umfassend inklusive Modeindustrie mit aufzubauen. Also eine, die möglichst alle Menschen als ihre Zielgruppe begreift.

In jeder Modekollektion sollten auch Menschen mit Behinderungen ganz selbstverständlich mitgedacht werden.

Das, was sie mit Auf Augenhöhe mache, sei ja erstmal eine „adaptive Mode“, die in enger Abstimmung mit der Zielgruppe entsteht und extra für sie angefertigt wird. Dieser Schritt sei zwar unumgänglich, um die Bedürfnisse und Wünsche von Menschen mit Behinderungen zu identifizieren, Designprozesse, Schnittkonstruktion und Bekleidungsproduktion entsprechend anzupassen. „Worauf es aber ankommt, ist der nächste Schritt: Nämlich daraus eine ‚inklusive Mode‘ zu machen“, so Gedik. „Dass also irgendwann in jeder Modekollektion auch Menschen mit Behinderungen ganz selbstverständlich mitgedacht und mitbedient werden.“

Das würde allerdings nicht nur bedeuten, die Größensysteme breiter aufzufächern. Sondern zum Beispiel auch, sich über gängige Verschlusssysteme wie Knöpfe oder Haken Gedanken zu machen, die etwa viele Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen nicht so einfach bedienen können. Und: Dass dann eben nicht Modeteile mit Magnetverschlüssen extra für diese Kundinnen und Kunden entworfen werden, sondern Magnetverschlüsse und andere Alternativen auch in regulären Kollektionen auftauchen oder gute Kompromisslösungen gefunden werden. „Es geht ja um Normalität, um Gemeinsamkeit“, so Gedik. „Darum, dass es für alle die gleichen Angebote gibt.“

Im Alleingang kann sie das nicht schaffen – das ist Sema Gedik schon seit langem klar. Also will sie an die Großen der Branche ran. „Ich habe schon ganz am Anfang von Auf Augenhöhe alle möglichen Modeunternehmen abtelefoniert, mit der Vorstellung, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen, das wirklich eine Wirkung hat“, erzählt sie. Die Antworten der Firmen hätten sich damals allerdings meist so gelesen: „Total schönes Projekt, viel Erfolg, aber das ist einfach nicht unsere Zielgruppe.“

Eigentlich wollen sie in denselben Geschäften einkaufen wie ihre Freundinnen und Freunde ohne Behinderungen auch.

Jetzt, zehn Jahre nachdem sie Auf Augenhöhe startete, hat Sema Gedik mit Uniqlo endlich ein großes Unternehmen an der Angel. Und musste dafür nicht mal selbst zum Hörer greifen: Das deutsche Büro des größten Modeunternehmens Japans, das weltweit mehr als 1900 Geschäfte betreibt, darunter allein sechs in Berlin, hat sich von selbst bei der Labelgründerin gemeldet. Man wolle sich des Themas annehmen, erstmal entsprechende Workshops mit Rollstuhlnutzenden initiieren, die schließlich in besagtem Paneltalk vor wenigen Wochen gipfelten.

Sie hat die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Workshop eingeladen, mit ihnen Uniqlo-Produkte wie Hemden, Blusen und Jeans analysiert, Vorschläge für barrierefreie Produkte entwickelt und diese gemeinsam mit einer Bekleidungstechnikerin den Bedürfnissen und Wünschen der Runde entsprechend angefertigt.

„Meine Aufgabe war außerdem, die Community in die ,Inclusive Fashion Workshops' reinzubringen. Mir war es wichtig, dass die Workshops möglichst divers zusammengesetzt sind“, erzählt Sema Gedik. „Menschen nutzen einen Rollstuhl ja aus ganz unterschiedlichen Gründen. Es gibt zum Beispiel kleinwüchsige Menschen, die einen Rollstuhl nutzen. Es gibt solche, die motorische Beeinträchtigungen haben oder querschnittsgelähmt sind.“ Nur durch die Einbindung möglichst unterschiedlicher Menschen hätte in den Workshops deutlich werden können, wie vielseitig auch die Wünsche und Bedürfnisse seien.

Das Anprobieren von Hosen war für mich immer mit viel Anstrengung verbunden. Mit einer Liege wird es leichter.

„Eines aber haben wir während dieser Workshops immer wieder und von allen gehört“, so Gedik. „Dass Projekte wie meines, Auf Augenhöhe, ein guter Startpunkt sind, aber die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eigentlich bei denselben Marken und in denselben Geschäften einkaufen wollen wie ihre Freundinnen und Freunde ohne Behinderungen auch.“ Das bestätige sie in ihrem Vorhaben, ihre eigene Expertise im Bereich der adaptiven und der inklusiven Mode mit den Ressourcen und der Schlagkraft eines großen internationalen Unternehmens wie Uniqlo zusammenzubringen.

Erste Früchte soll die Zusammenarbeit, die laut Sema Gedik längerfristig angelegt sein und weitere Projekte hervorbringen soll, schon bald tragen: Als eine Art Pilotprojekt gibt es zeitnah im neu eingerichteten „Re.Uniqlo Studio“ im Geschäft auf dem Tauentzien einmal im Monat einen Termin, an dem Menschen mit Behinderung ihre Uniqlo-Teile vorbeibringen können, um sie ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend umarbeiten zu lassen.

Außerdem soll es in dem Laden bald eine Umkleidekabine geben, in der auch eine Liege bereitsteht. Dass diese vielen Menschen ein angenehmeres Einkaufserlebnis versprechen würde, auch das hatte die Sportschützin Manuela Schmermund auf dem Paneltalk unterstrichen. „Das Anprobieren von Hosen war für mich immer mit viel Anstrengung und Schweiß verbunden“, hatte sie gesagt. „Mit einer Liege lässt sich das viel leichter machen.“

Früher wurden ja auch Gebäude nicht automatisch barrierefrei geplant und gebaut, heute gehört das zum Standard.

Für Gordon Reid, den schottischen Rollstuhltennisspieler, der ebenso Teil des Talks war und überdies seit 2017 ein Markenbotschafter von Uniqlo ist, war das völlig neu. „Ich selbst habe dieses Problem nicht, weil ich relativ mobil bin“, sagt er. „Das zeigt, wie unterschiedlich die Bedürfnisse und wie vielfältig unsere Community ist.“ Ihm selbst machten eher zu lange Jacken oder Ärmel zu schaffen, die beim Schieben seines Rollstuhls störten. Auch Gesäßtaschen auf Jeans und Hosen seien unangenehm, wenn man fast den ganzen Tag darauf sitze. Andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Paneltalks hätten indes herausgestellt, dass Blusen und Pullis meist zu lang seien für Menschen, die einen verkürzten Oberkörper haben.

Ob er es trotz dieser unterschiedlichen Bedürfnisse für realistisch hält, dass es irgendwann eine wirklich inklusive Mode gibt, die Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen erreichen will – und erreichen kann? Gordon Reid muss nicht lange überlegen. Man müsse sich ja nur anschauen, was in den vergangenen Jahren im Bereich des Städtebaus und der Architektur passiert sei.

„Früher wurden Gebäude eben nicht automatisch barrierefrei geplant und gebaut“, sagt Reid. „Heute aber gehört das für öffentliche Gebäude zum Standard, in vielen Ländern ist das sogar gesetzlich geregelt und alte Gebäude werden entsprechend umgerüstet.“ Ein ähnlicher Prozess, so glaubt er, kann und wird sich auch in der Mode ergeben.

Wünschenswert wäre das allemal. Denn Kleidung könne dazu führen, sich unbesiegbar zu fühlen, sagt der Rollstuhltennisspieler. „Natürlich gerade beim Sport, bei dem man sich auf alles mögliche, aber nicht auf seine Kleidung konzentrieren will, die vielleicht irgendwo zwickt oder hakt“, so Gordon Reid. „Aber auch ansonsten gilt: If you feel good, you look good“ – wer sich wohlfühlt, sieht gut aus. Und das haben alle Menschen verdient.