Inklusions-Aktivist Krauthausen: „Für blinde Menschen sind gegenderte Texte eine große Schwierigkeit“

2023-03-08 15:58:30 By : Ms. amyu yu

Gendern ist weniger inklusiv als viele glauben, sagt Raúl Krauthausen. Im Interview erklärt er, warum man den Verkehrsminister verklagen sollte und weshalb es nichts bringt, zu Markus Lanz zu gehen.

Köln – Sehr viele Fragen hat Raúl Krauthausen schon viel zu oft gehört. Deswegen hat er die Standardantworten zu Fragen wie „Was ist Inklusion?“ und „Kannst du Sex haben?“ gleich mal auf seiner Homepage beantwortet. Seit Jahren kämpft Krauthausen für die Rechte behinderter Menschen. In seinem neuen Buch „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden“, das am 14. März erscheint, rechnet er mit gut gemeinten Vorschlägen ab.

Herr Krauthausen, in Ihrem neuen Buch wollen Sie „grundlegende und oft unangenehme Fragen zur Inklusion in Deutschland“ aufwerfen. Welche sind das?

Ich bin zunehmend genervt, dass ich immer wieder – vor allem von nicht-behinderten Menschen – höre: „Wir müssen die Barrieren in den Köpfen überwinden. Wir müssen aufklären. Wir müssen Ängste nehmen.“ Alle, die das sagen, verstehen nicht, was das Problem ist. Wir sprechen hier über fundamentale Rechte. Behinderte Menschen bekommen keinen Mindestlohn, sie dürfen kein Vermögen ansparen und werden – trotz einer ach so aufgeklärten und sensibilisierten Gesellschaft – konsequent vergessen.

Die „Aktion Mensch“ wirbt mit diesem unsäglichen Satz, man wolle Barrieren im Kopf abbauen. Ich habe dann einfach mal nachgefragt: Wie macht ihr das denn? Antwort: „Wir machen Aufklärung.“ Aha. Was macht ihr denn genau? „Wir machen Bildungsprogramme, Plakate und Broschüren.“ Ich habe Kommunikationswissenschaften studiert. Aufklärung bringt nichts. Behinderte Menschen haben auch ein Recht auf Bildung – das ist eine Binsenweisheit und hilft niemandem weiter. Funfact: Ersetzen Sie in Debatten mal das Wort „Behinderte“ durch das Wort „Frauen“. Den Aufschrei will sich keiner ausmalen.

Dabei haben Sie es jahrelang probiert.

Ja. Jahrelang habe ich Zeitungen Interviews gegeben und war in Talkshows, habe mich vor einer Treppe fotografieren lassen. Es ging bis an die Klischee-Schmerzgrenzen und oft auch darüber hinaus. Ich habe geglaubt, wenn ich nur oft genug bei „Markus Lanz“ zu Gast bin, dann wird sich was ändern. Klar, man bekommt ein Forum. Markus Lanz ist aber leider „nur“ Moderator, nicht Verkehrsminister. Wir müssen an die Entscheidungsträger ran.

Was ist Ihre Botschaft an Verkehrsminister Volker Wissing (FDP)?

Er soll seine Arbeit vernünftig machen. Seit 2022 ist der ÖPNV verpflichtet, barrierefrei zu sein. Ist er aber nicht. Warum? Offensichtlich sind Behinderte nicht wichtig genug. Man sollte Herrn Wissing verklagen.

Raúl Aguayo-Krauthausen wurde 1980 in Lima (Peru) geboren. In Berlin und Potsdam studierte er Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation sowie Design Thinking. 2004 gründete Krauthausen gemeinsam mit seinem Cousin den gemeinnützigen Verein „Sozialhelden“ – ein Netzwerk ehrenamtlich engagierter Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen. 2013 wurde Krauthausen mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Ein Jahr später veröffentlicht er seine Biografie „Dachdecker wollte ich eh nicht werden – Das Leben aus der Rollstuhlperspektive“. Krauthausen hat Osteogenesis imperfecta (umgangssprachlich „Glasknochen“), ist kleinwüchsig, auf einen Rollstuhl angewiesen und lebt in Berlin.

Wer keine Inklusion will, findet Ausreden, sagen Sie. Welche sind das?

Der Klassiker: „Ich bin doch gar nicht dafür ausgebildet.“ Ein Hinhalte-Argument, das wir häufig von Lehrern oder Erziehern hören. Auch die Eltern von behinderten Menschen sind „dafür“ nicht ausgebildet. Das macht doch nicht die moralische Pflicht obsolet, es eben zu lernen.

Woran scheitert Inklusion: an fehlendem Willen, Geld oder mangelndem Bewusstsein?

Geld ist genug im System. Der Wille darf keine Kategorie sein. Es mag an meinem Willen liegen, ob ich mir morgens Nutella oder Marmelade aufs Brot schmiere. Und das Bewusstsein? Da sind wir wieder zu schnell bei den „Barrieren im Kopf“, die man überwinden müsse. Das reicht nicht.

Haben wir zu wenig behinderte Politiker? Wolfgang Schäuble (CDU) machte Politik für Nichtbehinderte, sagen Sie.

Das stimmt und ist auch sein gutes Recht. Nur weil du eine Behinderung hast, bist du nicht ab sofort Behindertenbeauftragter. Nur weil du eine Frau bist, wirst du ja auch nicht Frauenbeauftragte. Grundsätzlich brauchen wir mehr behinderte Politiker. Ja, wir haben einen Beauftragten für Behinderung. Der wird aber nur angehört, er darf nichts entscheiden. So kommen wir nicht weiter. In den USA ist das anders: Dort sind Antidiskriminierungsgesetze viel schärfer.

Immer mehr Minderheiten fordern ihre Rechte ein. Ist da einfach zu wenig Platz für behinderte Menschen?

Was die queere Community der behinderten Community voraus hat, ist die Sichtbarkeit. Queere Menschen sind heute völlig selbstverständlich Teil der Öffentlichkeit – und kommen auch bei Themen zu Wort, die gar nichts mit Gleichstellung zu tun haben. Je häufiger ich eine Person sehe, die kein heteronormativer, weißer Cis-Mann ist, desto sensibilisierter werde ich.

In der letzten Folge „Polizeiruf“ war der Hauptdarsteller ein trans Mensch. 

Ja, sehr gut. Bei uns behinderten Menschen ist da noch sehr viel Nachholbedarf. Man setzt heute lieber einen nicht-behinderten Schauspieler in einen Rollstuhl, als behinderte Schauspieler zu fördern. So kommen wir nicht weiter.

Liegt es auch daran, dass Inklusion viel Geld kostet?

Menschen mit Behinderung sind in Deutschland die einzige Gruppe, wo mit Kosten argumentiert wird. Das ist bei keiner anderen Minderheit so. Ich habe neulich einen Film beraten. Man muss wissen, dass Filme in aller Regel versichert werden. Bei diesem Film war das besonders schwierig, weil ein behinderter Schauspieler mitwirkte. Die Versicherung stellte sich allen Ernstes hin und sagte: Das können wir nicht versichern, das Risiko ist uns zu groß. Parallel dazu setzt Hollywood Tom Cruise in ein Kampfflugzeug, um die Szene echt wirken zu lassen. Ein Mann, der keine Flugausbildung hat. Was ist wohl gefährlicher?

Lassen Sie uns über das Gendern sprechen. Sie sehen den Diskurs im Bezug auf Barrierefreiheit dazu kritisch. Warum?

Für blinde Menschen sind gegenderte Texte eine große Schwierigkeit, weil die Programme, mit deren Hilfe sie lesen können, das Gendersternchen nicht richtig wiedergeben. Auch Menschen mit sogenannten kognitiven Einschränkungen tut man mit dem Gendern keinen Gefallen, weil sie auf leicht verständliche Texte angewiesen sind. Dennoch ist Gendern wichtig. Und wir werden technisch und gesellschaftlich Lösungen finden. Was wichtig ist: Ich möchte auf keinen Fall, dass Minderheiten gegeneinander ausgespielt werden.

Fehlen vielleicht einfach die Fürsprecher? Gefühlt kämpfen Sie ziemlich alleine für Inklusion.

Sie unterstellt, dass es in der Verantwortung von behinderten Menschen liegt, für ihre Rechte zu kämpfen. Gewissermaßen stimmt das auch. Aber es ist ein ungleicher Kampf. Vor kurzem sagte jemand zu mir: Mensch, lass uns doch mal eine Demo am Brandenburger Tor organisieren. 100.000 Rollstuhlfahrer demonstrieren für mehr Inklusion. Hm. Wie sollen denn 100.000 Rollstuhlfahrer aus der ganzen Republik mit Bus und Bahn dorthin kommen, wenn pro Zug zwei Rollstuhlplätze vorgesehen sind? Fakt ist, dass in all diesen Vielfaltsdiskursen Behinderung immer als letztes genannt, oder als erstes vergessen wird. Das muss sich endlich ändern.