Ideen für heute und übermorgen

2023-03-08 16:33:24 By : Ms. Cherry Chen

Von Das Interview führte Anna Kusserow

Raúl Krauthausen hat sich eine inklusive Welt zum Ziel gesetzt. Für einen Einzelnen sei das nicht zu schaffen, sagt er im Interview.

Raúl Krauthausen ist es leid gewesen, immer das gleiche barrierefreie Café zu besuchen. Er erfand deshalb mit anderen eine Karte, auf der alle rollstuhl(un-)gerechte Orte eintragen können. Heute gibt es diese Funktion bei Google Maps . Es könne aber nicht die Aufgabe Einzelner sein, die Welt zugänglicher für alle zu machen, erläutert er im Interview mit kugelzwei.

kugelzwei: Raúl, als Sozialaktivist setzt du dich für eine inklusivere Welt ein. Welches Problem hast du zuletzt gelöst?

Raúl Krauthausen: Grundsätzlich würde ich die Frage stellen, inwieweit Aktivist:innen überhaupt in der Verantwortung sind, Probleme der Zivilgesellschaft zu lösen. Hinter jeder Verbesserung stecken, wie hinter jeder sozialen Bewegung, auch viele Leute. Es wäre vermessen zu sagen, ich war die Person, die etwas bewegt hat. Nicht jeder von uns kann Greta Thunberg sein. Deswegen ist das für mich gar nicht so leicht zu beantworten.

Wir vom Verein Sozialheld:innen haben vor zwölf Jahren die vermutlich weltweit erste Karte für Menschen im Rollstuhl gebaut. Bürger:innen können damit ihre Nachbarschaften bewerten, ob diese rollstuhlgerecht sind oder nicht. Zehn Jahre später hat ein Internetgigant mit einer großen Onlinekarte diese Funktion bei sich eingebaut.

Vielleicht geht das durch unsere Arbeit in den Medien und in der IT-Szene auch auf uns zurück.

Raúl Krauthausen wurde 1980 in Lima, Peru geboren und ist in Berlin aufgewachsen. Er ist gelernter Kommunikationswirt und engagiert sich seit über 18 Jahren im Bereich Inklusion und Barrierefreiheit. 2004 hat er den Verein „Sozialheld:innen“ mitgegründet, der sich für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderung einsetzt.

Krauthausen ist an der Entwicklung der App „Wheelmap“ beteiligt. Alle Nutzer:innen können darin die Barrierefreiheit von (öffentlichen) Orten bewerten . Am 14.03.2023 erscheint sein Buch „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.“.

kugelzwei: Wie bist du damals auf diese Idee gekommen?

Krauthausen: Als wir vor 17 Jahren den Verein "Sozialheld:innen" gegründet haben, haben wir uns auf die Fahne geschrieben, innovative Lösungen für Menschen mit Behinderungen zu entwickeln und zwar aus deren Perspektive. Wir haben uns die Frage gestellt: Warum werden eigentlich fast alle Produkte von Nichtbehinderten gebaut?

Wir wollten ein Tool bauen, das behinderte Menschen ermächtigt, zu bewerten, ob ihnen etwas zugänglich erscheint oder nicht. Wohlwissend, dass das erst mal nur eine Einzelmeinung ist. Aber es ist besser als gar keine Information zu haben. Bis wir alle Menschen ohne Behinderung dazu bekommen diese Information bereitwillig von sich aus irgendwo einzutragen, würde ewige Zeit vergehen. Wir fangen einfach selbst mal an.

kugelzwei: "Einfach mal machen" ist auch ein Leitspruch eures Vereins. Deutschland hat sich im Grundgesetz und in der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, Diskriminierung von behinderten Menschen zu verhindern und gleiche Teilhabe in allen Lebensbereichen zu garantieren. Auf dem Arbeitsmarkt, an Eingängen zu Ladenlokalen, bei der Bedienbarkeit von Webseiten oder der Zusammensetzung von Schulklassen ist das aber nicht überall der Fall. Wo ist unsere Gesellschaft noch nicht inklusiv?

Krauthausen: Die Frage müsste eher andersherum gestellt werden: Wo ist sie schon inklusiv? Und dann lautete die Antwort: An kaum einem Ort finden wir Inklusion. Diese Frage ist aber auch ein bisschen müßig. Warum gehen wir eigentlich davon aus, dass es okay zu sein schien, dass behinderte Menschen in bestimmte Orte nicht reindurften, -dürfen, -können -sollen oder wollen?

Und wie kann es sein, dass Frauen immer noch weniger verdienen als Männer? Wir müssen schauen: Wo finden Ausschlüsse statt und was kann man dagegen tun? Und da hätte ich ein paar Ideen.

kugelzwei: Und welche Ideen hast du?

Krauthausen: Zum Beispiel hören wir in den Medien viel zu selten die Perspektive von Menschen mit Behinderung. Wenn es um Inklusion geht, sagt ein Politiker, ein Elternteil oder eine Pädagogin, was Inklusion für sie bedeutet und was nicht. Es wäre schon mal ein Anfang, wenn wir erst mal mit den Betroffenen reden.

Und zwar auf Augenhöhe und so, dass wir vermitteln, dass das, was gesagt wird, wirklich relevant ist, gehört wird und nicht im Alltag untergeht. Man erkennt das z. B. an dieser Floskel, die ich bisher nur von nicht behinderten Menschen gehört habe: "Wir müssen die Barrieren in den Köpfen senken."

kugelzwei: Das ist z. B. ein Slogan bei Aktionstagen von sozialen Verbänden und auch der Titel einer Publikation, die überprüft, wie Deutschland die Behindertenrechtskonvention umsetzt.

Krauthausen: Dieser Satz ist insofern problematisch, als dass er allen Menschen unterstellt, Barrieren in den Köpfen zu haben. Es kann sogar sein, dass ich jemanden dadurch erst auf die Idee bringe.

Das Schlimmste an diesem Satz aber ist, wenn man die Leute zurückfragt, was das denn jetzt heiße, was wir tun sollen, die Antwort immer ist: Aufklären. Ich glaube nicht, dass Aufklärung ein Problem ist. Wenn du, als Mensch ohne Behinderung Leute wie meine Nachbarin fragen würdest, ob behinderte Kinder auch ein Recht auf Spielplätze hätten, würde sie garantiert nicht Nein sagen.

Zu sagen, wir müssten alle aufklären, ist eigentlich eine völlig fehlgeleitete Debatte, weil meine Nachbarin gar nicht das Problem ist. Sondern das Problem sind Architekt:innen, Stadtplaner:innen, Spielplatzentwickler:innen, die Menschen mit Behinderung nicht ausreichend auf dem Schirm haben. Das heißt, wir müssen eigentlich schauen, wo ganz genau die Ausschlüsse beginnen und dort aktiv werden.

kugelzwei: Du siehst also eine Verantwortung vor allem auf struktureller Ebene. Was kann jede:r Einzelne tun, um für mehr Inklusion zu sorgen?

Krauthausen: Das ist auch wieder eine Binsenweisheit: "Was du nicht willst, was man dir tut, das füg auch keinem andern zu" gilt auch für Menschen mit Behinderung. Wenn ich als nichtbehinderte Person nicht möchte, dass ich aus dem Kindergarten ausgeschlossen werde, weil das der Erzieherin nicht passt, will das eine behinderte Person auch nicht. Die Grundlage von Inklusion ist reine, logische Empathie.

Und ein ganz konkretes Beispiel: Wenn du dein Kind in die Kita bringst, frag doch mal die Erzieherin, warum dein Kind nicht die Möglichkeit hat, gemeinsam mit Kindern mit Behinderung zu spielen. Wenn du heute Abend zum Yogakurs gehst und der ist zufällig im Erdgeschoss: Warum steht nicht auf der Webseite, dass das Studio einigermaßen rollstuhlgerecht ist und man auch im Rollstuhl Yoga machen könnte?

Mehr Inklusion erreichen wir, wenn wir vor allem empathisch zuhören. Dann sollten alle gemeinsam – Menschen mit und ohne Behinderung – schauen, was sind denn wirklich Barrieren? Wir sollten gemeinsam als Alliierte, mit Menschen mit Behinderung in vorderster Reihe, für dieses Thema kämpfen.

kugelzwei: Es gibt ja viele konkrete Initiativen von Einzelpersonen, die die Welt inklusiver machen. Ein Beispiel: Rita Ebel aus Hanau, die Rampen aus Legosteinen baut, um Eingänge zu Cafés und Ladenlokalen ohne Umbau barrierefrei zu machen, um nur eines zu nennen. Du siehst solche Ideen aber nicht nur positiv. Warum?

Krauthausen: Ich finde es schade, dass jemand aus der Zivilgesellschaft mit Legosteinen die Probleme lösen muss, die eigentlich der Gesetzgeber in viel größerem Maßstab hätte lösen können. Wie kann es sein, dass es immer noch Kindergärten, Bäckereien und McDonald's -Filialen gibt, die nicht barrierefrei sind?

Warum muss jemand aus der Zivilgesellschaft erst Legosteine davor bauen? Warum klatschen dann alle und warum empört sich niemand, dass dieser Ort vorher gar nicht barrierefrei war? Wo bleibt die Empörung, wo bleibt der Zorn?

kugelzwei: Solche Eigeninitiativen können vor Ort schnell ein Problem lösen.

Krauthausen: Ja, es geht schnell, aber es geht nicht groß und breit. Das ist keine Kritik an Frau Ebel, die das macht, sondern an der Berichterstattung darüber und an Soziallotterien und Stadtplaner:innen, die klatschend daneben stehen und sagen "Oh, wie toll." Anstatt zu sagen: "Wir finanzieren das im großen Stil und sorgen dafür, dass ihr immer weniger davon bauen müsst, weil wir richtige Rampen bauen."

Ich wünsche mir, dass solche Aktionen nicht eine Inspirationsausbeutung werden, sondern systematisch ein Problem gelöst wird. Legosteine sind ein super Symbol, um auf ein Problem aufmerksam zu machen, aber das Problem zu lösen, sollte niemals die Aufgabe dieser einen Person sein. Und außerdem wollen behinderte Menschen nicht wie Kinder behandelt und belächelt werden.

kugelzwei: Raúl, was wenn die Zukunft gut wird? Was bedeutet das für dich, wie sähe diese Zukunft aus?

Krauthausen: In einer guten Zukunft ist die Welt komplett barrierefrei. In einer 100 Prozent barrierefreien Welt könnte ich mit meinem Rollstuhl im Doppeldeckerbus oben sitzen.

kugelzwei: Ideen für heute und übermorgen: Was hat dich zuletzt inspiriert?

Krauthausen: Zuletzt inspiriert hatte mich das österreichische Onlinemedium "Andererseits“, in dem behinderte Journalist:innen die Spendengala „Licht ins Dunkel“ aus Österreich kritisch hinterfragten. Wer profitiert wirklich? Warum werden behinderte Menschen und ihre Schicksale so derartig zur Schau gestellt?

"Behindertenkritik: ORF-'Licht ins Dunkel'-Chef sieht 'keine Diskussion'" (kurier.at)

"Kritik an 'LiD': Van der Bellen für Dialog auf Augenhöhe" (orf.at)

kugelzwei: Stehen sich manchmal nicht auch Ansprüche, alle mitzunehmen, im Weg?  Ein Beispiel: gendersensible Sprache. Bei der Verwendung von Gendersternchen und Doppelpunkt melden sich Verbände, weil solche Zeichen Texte für Menschen mit Sehbehinderungen schwerer lesbar machen. Andere setzen sich für einfache Sprache ein und meinen ebenfalls, dass solche Zeichen Texte schwerer lesbar machen. Gibt es Grenzen der Inklusion?

Krauthausen: Natürlich sind behinderte Menschen keine homogene Gruppe, die sich immer in allem einig ist. Das ist aber bei Frauen genauso. Es gibt Frauen, die für das Verbot von Sexarbeit sind und es gibt Frauen, die dagegen sind. Das darf aber nicht dazu führen, dass Männer sagen: "Ihr wisst ja selbst nicht, was ihr wollt, deswegen machen wir jetzt weiter wie bisher." Sondern natürlich muss man das ausverhandeln.

Wenn wir sagen, dass wir gendern wollen, können wir uns fragen, was denn eine Lösung in leichter Sprache sein könnte. Aber die Leute, die sich darüber beschweren, dass Gendern doof ist, wegen der leichten Sprache, sind fast immer Menschen, die weder leichte Sprache benötigen, noch gerne gendern. Sondern das sind meist Menschen, die ein Problem mit Gendern haben.

Mir ist es egal, auf was für ein Zeichen wir uns am Ende einigen, ob es ein Sternchen, ein Doppelpunkt oder ein Unterstrich ist, das kann man verhandeln und diskutieren. Aber es darf niemals dazu führen, dass wir es deswegen lassen. Da werden Minderheiten gegeneinander ausgespielt, anstatt, dass ein Kompromiss gesucht wird.

kugelzwei: Das heißt, es muss gar nicht immer die perfekte Lösung geben?

Krauthausen: Aber wir sollten immer danach streben. Du arbeitest z. B. beim Rundfunk. Ihr setzt auch nicht jede Person vors Mikrofon. Man muss immer nach der besten Lösung streben, anstatt zu sagen: Ist mir egal, ich lass das jetzt so. Weil: sonst bleiben wir bei den Legosteinen.

Das Interview führte Anna Kusserow.

Website Raúl Krauthausen (raul.de)

Website Sozialheld:innen (sozialhelden.de)

„Wir müssen die Barrieren in den Köpfen senken“ (bundestag.de)

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