Matyas Sagi-Kiss: Von Schuld und Unschuld und dem Leben im Rollstuhl

2023-03-08 15:58:30 By : Ms. Sue Su

Während meiner bisherigen beruflichen Laufbahn habe ich wie viele versucht, einen Weg zu gehen, der mir Freude bereitet und mir gleichzeitig ermöglicht, einen kleinen Beitrag zu einer möglicherweise etwas besseren Welt zu leisten. Ob mir dies jeweils gelingt, sei dahingestellt, aber wer es nicht versucht, hat von vornherein kapituliert.

Es gab und gibt bis heute reichlich künstliche Hindernisse jeglicher Art, die mir und anderen Menschen mit Behinderung das Leben unnötig schwerer machen, als es ohne Behinderung ohnehin schon wäre.

Immer wieder gibt es wunderbare Begegnungen mit Menschen, die interessiert sind am Leben unserer nicht ganz so kleinen Minderheit, die leider immer noch eine Randgruppe ist. Zum Glück gibt es auch Begegnungen, bei welchen die Behinderung nicht der Dreh- und Angelpunkt ist.

Ich bin offen, gesprächig und darf Kommunikation vielleicht sogar als eine meiner Stärken bezeichnen. Schwieriger ist es für Menschen mit Behinderung, denen dies von Natur aus nicht so leicht fällt. Diese sind gewissermassen doppelt benachteiligt.

Ich kann mich an eine Sequenz aus meinen Anfängen im Berufsleben erinnern, die ich heute anders meistern würde.

Sobald Interesse bekundet wird, pflege ich einen offenen Umgang, was meine Behinderung angeht und beantworte gerne Fragen. Mit Blick auf die Ursache meiner Behinderung wurde ich von einer Arbeitskollegin gefragt, ob meine Mutter geraucht habe. Ich war Anfang 20. Ich habe die Frage wahrheitsgetreu mit einem Nein beantwortet, bemüht gelächelt und locker hinzugefügt: «Getrunken hat sie auch nicht».

Die Kollegin war das Paradebeispiel eines Anti-woken aber dennoch herzensguten Menschen. Das eine hat freilich nichts mit dem Anderen zu tun und rechtfertigt nicht derart deplatzierte Fragen. Mir war es in diesen jungen Jahren und erst recht an meinem Arbeitsplatz zuwider, eine Diskussion darüber loszutreten, dass solche Fragen auch dann nicht in Ordnung sind, wenn sie ohne böse Absicht und voller Naivität gestellt werden.

Die Plakate mit der Aufschrift „ICH SITZE UNSCHULDIG“ der Paraplegiker-Stiftung bedienen sich zwecks Fundraisings ebenfalls des Effekts, den die unsägliche Schuldfrage auslöst. Ich frage mich: Will die Stiftung die potenziellen Spenderinnen und Spender dahingehend «beruhigen», dass sie nur Paraplegikerinnen und Paraplegiker unterstützt, welche keine «Schuld» an ihrem Unfall trifft? Wenn ja, ist das eine doch eher unsympathische Haltung. Denn gerade die Behinderten, die wegen einer «Mitschuld» von Versicherungen allein gelassen werden oder deren Leistungen gekürzt werden, brauchen Unterstützung. Dass Versicherungen wegen angeblichem «Selbstverschulden» nicht oder weniger bezahlen, kommt übrigens erstaunlich häufig vor.

Zudem deutet der Spruch in dieser Fundraising-Kampagne auch auf einen unschönen, abwertenden Vergleich eines Lebens im Gefängnis mit einem solchen von uns Menschen im Rollstuhl. Entscheidend für die Lebensqualität eines Menschen ist aber gerade nicht die Frage, ob wir auf einen Rollstuhl angewiesen sind, sondern, ob wir in einer hindernisfreien, solidarischen und deshalb freieren Umwelt beziehungsweise Gesellschaft leben.

Es sollte unser aller Ziel sein, aktiv unser Bewusstsein mit Blick auf unsere Mitmenschen und ihre individuelle Einzigartigkeit zu schärfen. Arbeiten wir gemeinsam an einer Schweiz, in der jeder ein würdiges Leben führen kann und niemand darauf angewiesen ist, für Spenden Mitleid zu erregen oder gar beweisen zu müssen, «unschuldig» zu sein.

Zum Autor: Matyas Sagi-Kiss ist Bezirksrat in Zürich und Mitglied der SP.